Donnerstag, 6. April 2017

Great Women # 96: Leonora Carrington



Vier Mal 24 Frauenporträts habe ich seit dem Oktober 2014 geschrieben, veröffentliche heute also mein sechsundneunzigstes. Und ich habe noch so viel Lust darauf, euch weitere Frauen vorzustellen...
Dass ich heute aber mal eine Einleitung für einen solchen Post mit einem Mann beginne, nämlich dem von mir als Künstler durchaus hoch verehrten Max Ernst aus der Nachbarstadt, hat damit zu tun, dass dieser mit einer ganzen Reihe beeindruckender Frauen liiert war. Noch schlummert in meinem Bücherregal eine Biografie über seine erste Ehefrau Luise Straus-Ernst, zu seiner dritten Frau Peggy Guggenheim habe ich schon geschrieben und Barbara Bee hat Ehefrau Nr. 4, Dorothea Tanning, hier porträtiert. Bleibt mir übrig, mich seinen Geliebten zuzuwenden ( über Ehefrau Nr. 2 gibt es wenig zu sagen ). Am beeindruckendsten ist mir da schon immer Leonora Carrington vorgekommen. Deren hundertster Geburtstag steht heute an.
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Leonora Carrington kommt am 6. April 1917 in Clayton Green, Chorley, Lancashire zur Welt. Sie wird hineingeboren in eine sehr gut situierte Familie, denn ihr Vater ist der Textilmagnat & Hauptaktionär von Imperial Chemicals (ICI), Harold Carrington. Er wird später als protestantischer Workaholic charakterisiert, der darunter leidet, kein Lord, sondern nur ein Parvenü zu sein.
Ihre Mutter Maureen Moorhead ist die Tochter eines irischen Landarztes, verwandt mit der Romanautorin Maria Edgeworth, katholisch, eher "open minded", sehr interessiert an Kunst, aber auch darauf bestehend, dass die Lebensart der "upper class" in ihrem Haus strikt eingehalten wird.

"Crookhey Hall" (1979)
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Das Mädchen wächst mit drei Brüdern auf dem Landsitz Crookhey Hall auf, einer neugotischen Villa, und verbringt den ersten Teil ihrer Kindheit mit Reiten und - zu ihrem späteren Bedauern - der Fuchsjagd. Sie entwickelt eine leidenschaftliche Zuneigung zu Tieren ( was das magische Bestiar in ihrer späteren Kunst erklärt ).
Das Familienleben hingegen erlebt sie als kalt, abweisend, ja sie wird später den Vater gar als "Satan" bezeichnen, der mit ihr macht was er will.
"Meine Mutter sah ich am Tag nur ein einziges Mal: wenn ich von meiner Gouvernante zu ihr zum Tee geführt wurde", berichtet sie über den häuslichen Umgang. Die Familie wird für das Kind so zum schrecklichsten Ort der Welt. Das wird auch auf ihren späteren Bildern immer wieder deutlich. Die Idylle der Fotos täuscht...

1922
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Neben den Tieren gibt ihr das Malen Halt und die Volksgeschichten, die ihr ihre irische Kinderpflegerin erzählt, oder die Bücher mit den Märchen der Brüder Grimm oder von Hans Christian Andersen, den Erzählungen von Lewis Carrol und den Gespenstergeschichten von Montague Rhodes James. Schon der Hauslehrer Pastor O'Connor scheitert an dem Mädchen, das alles nur in Spiegelschrift schreiben will.

Leonoras Eltern schicken sie dann auf drei bis vier Klosterschulen, aus denen sie wegen ihres exzentrischen Verhaltens aber immer wieder verwiesen wird. Was will man auch mit einem Kind machen, das im Weihwasserbecken einen Tiger auf einem Floß rudern sieht, das mitten im Gebet lauthals herausplatzt, weil angeblich gerade 99 als Schafe verkleidete Pferde die Kapelle betreten, und das sich zu allem Überfluss auch noch selbst für eine Stute hält? Leonora überfordert mit ihrer Fantasie ihre Lehrerinnen.

Als die Fünfzehnjährige wieder einmal wegen "Aufmüpfigkeit" ein solches Institut verlassen muss, schicken die Eltern sie zum Studium auf die Malschule der Miss Penrose in Florenz. Der Vater ist zwar nicht begeistert davon, aber ihre Mutter interveniert. Und so wird Leonora in Florenz mit den italienischen Meistern konfrontiert, deren Liebe zu Gold, Zinnoberrot und Erdfarben ihre spätere Arbeit inspirieren werden.

Als Debütantin mit ihrer Mutter (1935)
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Sie ist voller Enthusiasmus, was das Leben als Künstlerin betrifft, aber ihr Vater hat andere Ideen: Zuerst soll ihr der "finishing touch" in Paris gegeben werden. Dann holt man sie nach London zurück, mietet eine Wohnung für die Saison in Mayfair, um sie als Debütantin und am Hof von George V. vorzustellen. Doch Leonora ist nicht bereit, die engen Erwartungen ihres Clans und ihrer Klasse zu erfüllen:
"Nach all dem Scheiß sagte ich zu meinen Eltern: In Ordnung, ihr habt euren Spaß gehabt, jetzt werde ich den meinen besorgen. Und zum Kummer meiner Eltern war für mich dann wirklich und endgültig Schluss mit diesem ganzen Gesellschaftszirkus." ( Quelle hier )

Sie schreibt sich in der Kunstschule ein, die 1935 von dem französischen Maler Amédée Ozenfant in London gegründet worden ist. Als im Jahr 1936 die erste surrealistische Ausstellung in London zu sehen ist, ist das für Leonora so etwas wie eine Epiphanie!

Der Kunsthistoriker Herbert Read, umstrittener Anhänger der Kunst der Moderne in England, veröffentlicht auch ein Buch über den Surrealismus. Dieses schenkt Leonoras Mutter der Tochter zu Weihnachten. Es fesselt sie wie kein anderes Werk, denn es liefert ihr den Beweis, dass es eine absolute Trennung zwischen der Welt der physischen Objekte und der sinnlichen Erfahrungen nicht gibt. Leonora ist Surrealistin, bevor sie "die Überzeugungen noch die Philosphie der Surrealisten" kennt, sagt sie später in einem Interview.

Leonora inmitten ihrer Brüder,
kurz bevor sie die Familie verlässt
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Wenige Wochen später lädt ihre Kommilitonin Ursula Goldfinger sie zum Abendessen ein. Zu den Gästen zählen ihr gemeinsamer Lehrer Ozenfant und sein Freund, der deutsche Künstler Max Ernst. Der ist Leonora von einem Bild her, das sie sehr fasziniert, ein Begriff: "Deux enfants sont menacés par un rossignol". Max Ernst ist die strahlende Figur des Abends. "Coup de foudre" nennt man das, was mit der neunzehnjährigen Leonora passiert, als Max Ernst mit einem Finger verhindert, dass das von ihr verschüttete Bier vom Tisch herunter läuft. Als er London verlässt, folgt sie dem sechsundvierzig Jahre alten Künstler nach Paris. Sie wird seine "Windsbraut", er ihr "Loplop, der Vogelobere"...

"Unsere Familie war nicht kultiviert oder intellektuell - wir waren doch die gute alte Bourgeoisie", sagt sie später. "Von Max hatte ich meine Ausbildung: Ich lernte Kunst und Literatur, er lehrte mich alles." Doch das gemeinsame Leben in Paris ist nicht gerade unkompliziert: Max Ernst verbringt viel Zeit mit seiner zweiten Ehefrau, Marie Berthe, mit der er seit 1927 verheiratet ist. Sie hat ihrem Erbe entsagt, hat also finanzielle Probleme. Doch das alles wiegt das Gefühl der Freiheit nach den klaustrophobischen Erfahrungen in ihrer Familie auf. In Paris findet sie ihre wirkliche Familie, eine künstlerische Gemeinschaft, mit der sie sich eng verbunden fühlt.

"Bird Superior"
( Max Ernst 1939)
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Sie lernt sie alle kennen: Pablo Picasso ( "Ein typischer Spanier - er dachte, alle Frauen seien in ihn verliebt", erinnert sie sich. Und waren sie? "Nun, das war ich sicher nicht, obwohl ich seine Kunst mochte." ), Salvador Dalí ( "Er war sicherlich nicht außergewöhnlich: Er sah aus wie jeder andere, nur als er nach Amerika ging, fing er an, außergewöhnlich zu sein." ), André Breton, Man Ray, das Ehepaar Miró, Paul Éluard, aber auch die Malerinnen Leonor Fini & Remedios Varo .

In der Pariser Gruppe der Surrealisten existieren Frauen allerdings nur als kindliche Musen und als Publikum, welches das Männergespräch höchstens stimuliert. Breton & Eluard sind richtige Gockel ( das ist ein Urteil über ihr Rollenverhalten, nicht über ihre Kunst! ). Und es entspricht dem Rollenverhalten dieser Bewegung, dass fortan die Kunst Leonoras durch die Einfälle von Max Ernst gedeutet werden. ( Ihr ganzes Leben wird sie von da an gegen die Definition durch ihre Affäre mit Max Ernst kämpfen. )

Als Max Ernst sich 1938 mit André Breton & seinem Surrealistenzirkel überwirft, verlässt er schließlich seine Frau und zieht mit Leonora in die Provence. Die Fotografin Lee Miller ist dort ein häufiger Gast - von ihr gibt es etliche Fotos des Paares:

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Leonora wehrt sich gegen den Vorwurf, sie sei weggelaufen, um ein Künstlermodell zu werden. "Ich war nie sein Modell!" Für sie sind jene Tage in der Provence eine Zeit der großen Kreativität, und mit Ernsts Ermutigung beginnt Leonora auch zu schreiben. 1939 produziert sie auch ihre erste wirklich surrealistische Arbeit "The Inn of the Dawn Horse (Selbstbildnis)" - das wohl bekannteste Werk der Leonora Carrington!

Ihr Versteck vor Ernsts Ehefrau können sie verlassen, als Leonoras Mutter ihnen Bargeld überbringt. Davon kauft das Paar ein Bauernhaus auf einem Hügel in Saint-Martin-d'Ardèche. An der Ardèche arbeiten sie unermüdlich, pflegen Reben, schreiben, bemalen und schaffen herrliche apotropäische Reliefs von seltsamen Tieren.

Leonora auf der Treppe des Hauses
Doch der Abwehrzauber funktioniert nicht lange:

Als der 2. Weltkrieg ausbricht, ist Max Ernst aus zweierlei Gründen äußerst gefährdet: als feindlicher Fremder in Bezug auf die Franzosen und als Maler der "entarteten Kunst", was die deutschen Besatzer anbelangt. 1940 wird er zunächst im Gefängnis von Largentière, anschließend im berüchtigten Lager Les Milles interniert. Leonora erleidet einen geistigen Zusammenbruch. Freunde kommen und drängen sie, mit ihnen über die spanische Grenze zu fliehen.

So beginnt die fürchterlichste Zeit ihres Lebens: Sie überquert die Pyrenäen und schafft es noch, das Prado in Madrid zu besuchen mit all seinen Bildern von Hieronymus Bosch. Dann erleidet sie endgültig einen psychischen Knockout, wird in in eine psychiatrische Klinik in Santander eingeliefert, wo sie durch die Behandlung mit Cardiazol als Schocktherapie albtraumhafte Wahnvorstellungen erleidet.
"Jedenfalls hatte ich vor meiner Einlieferung jenes Gefühl, das viele Heranwachsende haben, nämlich unbesiegbar zu sein, ein wenig wie Gott. Dort habe ich herausgefunden, dass ich nicht Gott war. Was, menschlich betrachtet, eher gut war." ( Quelle hier  )
Künstlerisch wird sie dieses Erlebnis verarbeiten, um das sie die Surrealisten, völlig ohne Empathie, beneiden und das der Vater kommentiert, sie hätte das vermeiden können, wenn sie einen Aristokraten geheiratet hätte, statt einem alternden Künstler hinterherzulaufen. Die Erinnerung an diesen Aufenthalt erschreckt Leonora allerdings weniger als eine trostlose, gemeine, verwöhnte Zukunft in England:

Als Leonoras Vater einen Geschäftskontakt nutzt, um sie aus dem Krankenhaus in Santander zu befreien, ihre einstige Kinderpflegerin auf einem Kriegsschiff nach Lissabon schickt, um sie nach Hause zu holen, übergibt Leonora, auf das Schiff in Lissabon wartend, den Leuten ihres Vaters ein Schreiben und entkommt durch die Hintertür eines Cafés. Sie springt in ein Taxi und bittet: "Bringen sie mich in die mexikanische Botschaft!"

Leonora & Renato Leduc in den Vierziger Jahren
Einer ihrer Freunde in Paris war ein mexikanischer Diplomat, Renato Leduc, ein Freund Picassos, der nun in Lissabon eingesetzt ist. Als Lösung ihrer Verlegenheiten bietet er ihr an, sie zu heiraten und sie aus den Fängen ihrer Familie und aus Europa zu befreien.

Zufällig trifft sie auch Max Ernst in der Stadt, der mit der Kunstsammlerin Peggy Guggenheim, die sich in ihn verliebt hat, deren Ex-Ehemann, dessen Ex-Frau und einer ganzen Sammlung von Kindern auf die Ausreise nach New York wartet. Max liebt Leonora nach wie vor, und sie wieder zu sehen, wühlt ihn auf. Peggy Guggenheim macht sich da keine Illusionen ( und wird darüber auf bewegende Weise in ihrer Autobiographie schreiben ). Wenige Tage, nachdem Max und seine Entourage abgeflogen sind, reisen auch Leonora & Leduc mit dem Schiff ab: Ihre europäische Odyssee ist vorbei.

Die Surrealisten in New York
Leonora in der ersten Reihe
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Der Pariser Surrealistenkreis hat New York schon besetzt, als sie dort eintrifft, und Max Ernst sich durch die Heirat mit Peggy Guggenheim in Sicherheit gebracht. Leonora wird Teil der Gruppenausstellung in Peggy Guggenheim’s "Art of This Century gallery" sowie im "Museum of Modern Art".

Nach ein paar Monaten löst sie ihre Ehe mit Leduc und zieht weiter nach Mexiko. Ein Freund erinnert sich an die Leonora jener Tage: "Sie wirkte gesund und stabil, machte aber den Eindruck, dass sie in einem permanenten Zustand der Angst lebte -  sie hatte keinen inneren Frieden".

Bei ihrer Eheschließung (1943 )
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Ihr Leben verläuft erst in ruhigeren Bahnen, als sie in Mexiko-Stadt den ungarischen Fotografen Emerico "Chiki" Weisz kennenlernt, Flüchtling wie sie und jemand, der viele Familienmitglieder beim Holocaust verloren hat. 1943 heiraten sie. Auch ihre Erlebnisse in Spanien schreibt sie in dem Jahr nieder:"En bas"ist der Titel des literarischen Werks.

Hier lebt die Sphinx, sie ist schön, intelligent und frei“, schreibt ihr wichtigster Sammler Edward James, dem sie 1944 zum ersten Mal begegnet, über ihr Haus in Mexico City.

Schon in ihrem ersten Jahr in Mexiko - Stadt trifft Leonora auch die spanische surrealistische Malerin Remedios Varo wieder - eine wichtige Freundschaft für sie bis zum Tod Varos 1963. Gemeinsam studieren sie Alchemie, die Kabbala und das heilige Buch "Popol Vuh" der guatemaltekischen Maya. Mexiko gibt Leonora also den Raum und die Gelegenheit, zu bildhauern und zu malen, und - mit seiner aztekischen und Maya-Geschichte und seinem Totenkult einen ganz frischen und reichen Impuls für ihre Kunst.

Mit ihren Söhnen
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1946 und 1947 bringt sie ihre Söhne Gabriel und Pablo zur Welt. Ihre Schwangerschaften sind eine große Zeit für ihre Malerei. Ihrem Freund Edward James erklärt sie: "Inspirierte Malerei, finde ich, braucht eine eher verträumte und undurchdringliche Stimmung, begünstigt durch einen ständig gefüllten Magen - vorzugsweise mit schweren und unverdaulichen Speisen wie Schokolade, Kuchen, Marzipan in Blöcken ... Das ist, warum ich so schön gemalt habe, als ich schwanger war, denn da habe ich nichts anderes gemacht als zu essen."

Ihre Arbeit wurzelt für eine gewisse Zeit sowohl in den alltäglichen Erfordernissen des Frauenlebens als auch den magischen Themen, die sie studiert. In ihren Bildern verknüpft sie also die Inbilder des irdischen, häuslichen Lebens mit denen übernatürlicher Wahrnehmung, in denen auch die Natur immer mit Magie aufgeladen ist. Ihre Malerei ist enorm kompliziert, denn ihre Technik ist akribisch und detailliert. Und da sie mit Eitempera arbeitet wie die alten Italiener oder Holländer, muss sie täglich die Farben herstellen. Schon alleine deshalb kann sie nicht Massen von Bildern produzieren. Und: "... dazu gehört eine Menge Energie. Besonders wenn man Kinder großzieht und das notwendigerweise eine geraume Zeitlang für wesentlich wichtiger hält als die Kunst." ( Quelle hier )

Als wichtiges Beispiel für Leonoras Malerei jener frühen Zeit in Mexiko - City gilt das Bild "The House Opposite" ( ca. 1945):

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In den 1940er und 50er Jahren macht Leonora eine kleinere Anzahl von geschnitzten Holzskulpturen, und in den 1980er und 90er Jahren produziert sie große Bronzeskulpturen mit phantastischen, anthropomorphen Formen, komisch und schrecklich zugleich, wie "How Doth the Little Crocodile" auf einer Straße in  Mexiko - City  ( Abb. weiter unten )

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Die wunderbaren Gemälde, in denen sich die Phantasien von Hieronymus Bosch, die Eleganz und das räumliche Verständnis des Quattrocento und ihre persönliche Mythologie, basierend auf dem Katholizismus, der jüdischen Mystik und jenen keltischen Elementen aus den Geschichten der Kinderfrau vermischen, sind und bleiben ihr das Wichtigste in den sechzig Jahren in Mexiko - City, denn die kann sie ganz alleine schaffen, anders als Skulpturen. Obwohl sie völlig individuelle Lösungen findet, scheinen dem Betrachter die fantastischen Gemälde Abbilder der eigenen Träume zu sein und dadurch - so Luis Buñuel - "befreit sie uns von der miserablen Wirklichkeit unserer Tage".

Trotz (Vor-) Liebe zur Malerei experimentiert Leonora Carrington auch mit vielen anderen Medien: Es gibt Entwürfe und Kostüme für Theaterstücke zu eigenen Texten sowie Shakespeare - Stücken. Es gibt Textilien, die in Zusammenarbeit mit einer Familie mexikanischer Meisterweber geschaffen werden. Neben Skulpturen existiert ein vier Meter langes Wandgemälde am "Instituto Nacional de Antropología e Historia" in Mexiko-Stadt. Es gibt Radierungen, Lithographien, illustrierte Gedichte und Entwürfe für bemerkenswerte Hüte. Die wild aussehenden Pappmaché-Masken, die sie für eine Produktion von "The Tempest" entwirft, sind besonders verführerisch.

Viele ihrer Gemälde sind hier zu sehen.

Welche Inspiration ihre Bildfindungen jungen Kreative unserer Tage bieten, zeigen diese Collagen:

Links: Tilda Swinton für das W Magazine, 2013, rechts: Grüner Tee oder La Dame Ovale, Leonora Carrington (1945)






Links: Tilda Swinton für das W Magazine, 2013; rechts: Darvault, Leonora Carrington, (1950)
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Über wie viel Humor Leonora verfügt, wird vor allem in ihren Texten deutlich. Was für ein herrlich unerschrockenes und verrücktes greisenhaftes Freundinnenpaar stellt sie uns in „Das Hörrohr“ vor. Von welch unerreichbarer Warte studieren die Alten das niedrige Menschenleben! Bevor er das Buch herausgibt, schreibt sie ihrem Verleger Henri Parisot:
"Ich bin nicht mehr das entzückende junge Mädchen, das einmal verliebt durch Paris gegangen ist – Ich bin eine alte Dame, die viel erlebt hat, und ich habe mich verändert – wenn mein Leben etwas wert ist, bin ich das Ergebnis der verstrichenen Zeit... Ich akzeptiere meinen gegenwärtigen Zustand des ehrenwerten Verfalls ... Wie ein alter Maulwurf, der unter den Friedhöfen schwimmt, bin ich mir bewußt, daß ich immer blind war – ich suche den Tod kennenzulernen, um weniger Angst zu haben, ich versuche die Bilder, die mich blind gemacht haben, loszuwerden – Ich schicke Ihnen noch viel Liebes und küsse Sie vermittels meines Gebisses (das nachts in einer kleinen himmelblauen Plastikschachtel neben mir liegt." ( Quelle hier )
Eine interessante Besprechung des Buches hat Monika Maron hier veröffentlicht.

"How Doth the Little Crocodile"  ( Skulptur 2000, Malerei 1998 )















"Sie war zu Hause am glücklichsten. Sie hat sich ihren beiden Söhnen und ihren Katzen gewidmet, und dem Baum, den sie als junge Frau im Vorgarten gepflanzt hatte. Es gab diese Idee, ein eigenes Universum zu erschaffen und nichts weiter zu brauchen", meint ihr Freund Homero Aridjis einmal in einen Interview.
Für eine, die von sich behauptet, sie versuche fliegen zu lernen, ist Leonora in den praktischen Details des Alltagslebens wirklich sehr verwurzelt...

Für Leonora Carrington ist ihr Haus ihr Haus in Colonia Roma aber auch ein Heim in einem viel tieferen Sinne: Sie hat sich nie dem Materialismus und der Rationalität der westlichen Kultur, in die sie geboren wurde, verbunden gefühlt. Mexiko bietet ihr hingegen eine Mythologie voller Rätsel und Schrecken, die mit ihrem  eigenem Temperament und ihrem Glauben übereinstimmen. Die Mythen der Göttin Coatlicue mit ihrem Schlangenrock und ihrem Sohn Huitzilopochtli, der menschliches Opfer fordert, bieten der Künstlerin ein Gefühl von spiritueller Unruhe und Erregung. Sie widersteht aber der Versuchung, indianische Motive und Bilder zu übernehmen. Ihre Figuren & Motive bleiben den Erfahrungen verhaftet, gegen die sie in ihrer Jugend rebelliert hat. Ihre Vorstellungswelt ist durch und durch privat.

Links: "The Old Maids" (1947), rechts: Leonora Carrington 1994
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Erstaunlich, dass das "wilde Herz" der jungen Jahre so sesshaft geworden ist: Sie verlässt das Land nur zwei Mal: nach den Studentenprotesten von 1968 zur Unterstützung der linken Aktivisten und als Demonstration, und ein weiteres Mal nach dem verheerenden Erdbeben von 1985.

69 Jahre hat sie in Mexiko gelebt, über tausend Ölbilder, Aquarelle, Zeichnungen, Skulpturen geschaffen, als sie im Mai 2011 mit einer Lungenentzündung in ein Krankenhaus in Mexiko-Stadt gebracht wird. Dort stirbt sie am 25. Mai im Alter von vierundneunzig Jahren.

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"Ich hatte nicht das Gefühl, ein Genie zu werden, nur weil ich Max kennengelernt hatte. Nein so war es nicht. Verstehen Sie, bevor ich Max kennenlernte, gehörte meine ganze Energie der Malerei, dann habe ich mich in ihn verliebt, und die Malerei habe ich weitergeliebt.
Auch Leonora Carrington ist wieder so ein Fall, bei der alles immer nur im Blick auf einen Partner gesehen wurde. Leonora war aber nie eine Frau, die von irgendjemandem dominiert werden konnte, nicht von ihrer Familie und nicht von ihrem Geliebten. Sie war auch nie eine Muse, auch keine feministische. Sie war eine Sybille des 20. Jahrhunderts.









Heidekind hat hier übrigens an eine Frau erinnert, die am vergangenen Montag zweihundert Jahre alt geworden wäre - lesenswert!

17 Kommentare:

  1. Hoch spannend und anregend dein Porträt von dieser Künstlerin. 69 Jahre Mexiko, gerade wird mir bewusst, wieviel sie in ihrem jungen Leben vorher schon gelebt hat, bevor sie nach Mexiko aufbrach. Und ihr Altersgesicht begeistert mich geradezu... Danke dir für diese tollen Leseminuten vor einem vollen Tag 🙂 Lieben Gruß Ghislana

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  2. Ich mag Biografien sehr gerne . Fassen die doch viel zusammen als man sonst über eine Person erfahren würden zusammen
    LG Heidi

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    1. Ps ... da ich Deinem Blog ja noch nicht all zu lange folge werde ich deine Biografien mal so nach und nach lesen ;) Bin ja jetzt sehr neugierig geworden .

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  3. Was für ein Leben vom beschaulichen England über unruhige Jahre in Frankreich und dann en famille ausgerechnet in Mexico City. Und welch ein Fluß von Kreativität und Können. Sie braucht sich hinter den Männern des Surrealismus wahrlich nicht zu verstecken bzw. ja, sie müsste davor stehen - so wie sie davor sitzt auf dem Foto.
    Von der Fülle ihres Werks und der Länge ihres Lebens bin ich sehr beeindruckt, das war mir gar nicht so bewusst.
    Super recherchiert und geschrieben von Dir, Danke Astrid!
    Sehr schön, dass Du auch weiterhin Lust hast, uns beeindruckende Frauen vorzustellen!
    Herzlichste Grüße von Sieglinde

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  4. Auch ganz unabhängig von ihrer Kunst eine großartige Frau.
    Wundert mich gar nicht, dass Monika Maron sie mag.
    Und ich mag Monika Maron, sehr.
    Liebe Grüße

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  5. Was für eine wunderbare Welt, diese Bilder. So ganz meins. Danke fürs Vorstellen. Ich hatte noch nie von ihr gehört.
    Lieben Gruß
    Katala

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  6. So ein bewegtes Leben, mit dem so viel Zeit, Geschichte, Persönlichkeit und Persönlichkeiten umfasst wurden. Man liest es im Gesicht dieser wunderschönen alten Frau.
    Danke, liebe Astrid, für dies wieder perfekt servierte Frauenportrait!

    Lieben Lisagruß!

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  7. Ach wie schön! Bei dem Thema gehen dir die Vorlagen auch einfach nicht aus!
    Wieder so eine unglaublich spannende Persönlichkeit!

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  8. Wieder ein spannendes leben..finde d'en brief einmalig, kraeftig und so ´réaliste...´ danke dir!

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  9. Was für ein wunderschönes Gesicht sie auch im Alter hat!
    glg Susanne

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  10. wie sagenhaft interessant---tolles Portrait. Liebe Astrif, das hast du ganz wunderbar recherchiert und geschrieben!
    Liebe Grüße
    Susa

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  11. Das Porträt der alten Leonora zeigt, wie kraftvoll sie gelebt hat. Bei dieser Fülle von Aktivitäten frage ich mich manchmal, ob da der Tag mehr als 24 Stunden hatte. Selbst für 94 Jahre war das Programm übervoll und ich kann mir vorstellen, dass es gar nicht einfach war, alles in den Post zu packen. Jedenfalls war es wieder interessant.
    LG
    Magdalena

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  12. Danke fürs Auffrischen. Vor einiger Zeit habe ich bereits eine Biographie über sie gelesen. Immer wieder das gleiche Übel, dass die Künstlerinnen wieder nur bzw. oft über ihre Männer oder Liebhaber definiert oder erinnert werden...
    Liebe Grüße
    Andrea

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  13. Liebe Astrid,
    Vielen Dank für das auf diese tolle Künstlerin aufmerksam machen, irgendwie wusste ich kaum etwas von ihr. Und stelle fest, dass mich ihre Bilder sehr ansprechen, mehr als alle der bisher gesehenen surrealistischen Bilder ihrer männlichen Kollegen. Eine ganz eigene Traumebene. Ich freue mich auf weitere Porträts, lg heike

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  14. deinen bericht habe ich - obwohl mir die müdigkeit in den knochen sitzt - gänzlich atemlos gelesen. und ja, tatsächlich. sie war auch für mich nicht als eigenständige künstlerin wahrnehmbar, was ich wieder mal ganz ärgerlich und unglaublich finde. deshalb finde ich deine heutige biographie ganz besonders anregend und spannend und werde mich noch weiter mit ihr beschäftigen. danke für den aufschlussreichen und tollen beitrag!!
    liebe grüße
    mano

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  15. Was für eine große Frau und Rebellin. Ihre vielseitigen Talente und ihre Art an Themen heran zu gehen zollt meinen großen Respekt. Wieder einmal ist es dir, liebe Astrid, eine un-glaubliche Vita aufzuschreiben.
    Danke- auch für deinen Link zu Mathilde Anneke.
    Gruß zu dir
    heiDE

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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