Donnerstag, 2. November 2017

Great Women # 119: Carola Neher


Es ist ein Zufall, dass ich unmittelbar nacheinander zwei berühmte Protagonistinnen des Berliner Theaterlebens der Goldenen Zwanziger hier porträtiere. Beide spielten verschiedene Rollen in der "Dreigroschenoper" von Bertolt Brecht und Kurt Weill und begeisterten damit ihr Publikum. Doch wie unterschiedlich ist ihr weiteres Leben anschließend verlaufen! Lotte Lenya habe ich hier vorgestellt. Heute geht es um Carola Neher, der Polly jener sagenumwobenen Bettleroper. Heute wäre ihr 117. Geburtstag.

Ins Leben getreten ist Karoline Neher am 2. November 1900 in München. Ihre Mutter Katharina betreibt in der Nähe des Nymphenburger Schlosses in der Pilarstraße eine Weinstube, ist tüchtig und resolut - ihrem ältesten Kind wird man später nachsagen, dass es von ihr ihren Durchsetzungswillen geerbt habe. Der Vater Josef Neher ist ein begabter Musiker, aber jähzornig und trunksüchtig und führt ein strenges Regiment, wie es in jener Zeit von einem Vater erwartet wird. Zum Lebensunterhalt trägt er als Musiklehrer und Chorregent bei den Englischen Fräulein in Nymphenburg bei. Auf ihn geht Carolas Musikalität zurück: Schon das Kind spielt hingebungsvoll Klavier. Des Vaters liebste Strafe ist dann auch ein Spielverbot für dieses Instrument. Kein Wunder, dass Carola immer wieder gegen das Diktat des Vaters rebelliert, auch gegen die ständige Verpflichtung zur Hausarbeit als Tochter. "Sie war ein sympathischer Teufel ...", charakterisiert sie der Bruder später.  

Ab dem Herbst 1906 besucht sie für acht Jahre die Schule der Englischen Fräulein an der Maria-Ward- Straße. Als sie die 1914 verlässt, wird ihr "hervorzuhebender Fleiß" und "ein sehr lobenswertes Betragen" bescheinigt. Der Vater setzt anschließend eine Banklehre durch, obwohl Carola sich zur Schauspielerei hingezogen fühlt. Doch einen entsprechenden Unterricht verbietet der Vater strikt. Von 1917 bis 1919 arbeitet sie in der Münchner Filiale der Dresdner Bank. Von ihrem Gehalt finanziert sie heimlich Gesangs- und Schauspielunterricht bei Mitgliedern des Staatstheaters. Immerhin bildet sie der Vater am Klavier aus, und Carola selbst trainiert sich eisern einen Sprachfehler ab. Ebenso energisch betreibt sie Sport beim TSV Neuhausen-Nymphenburg.

1920 - der Krieg ist endlich vorbei, der herrische Vater hat sich zu Tode getrunken. Jetzt kann sie endlich ihren Traum verwirklichen und sie nimmt ein Engagement an den Staatlichen Schauspielen Baden-Baden an.
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 "...Ich lief die Schienen entlang. Da kam – o Engel vom Himmel – eine Straßenbahn! Ich sprang auf… und meine Mutter blieb, verzweifelt winkend, zurück ... Ich fuhr vom Bahnhof nach Baden-Baden. Dort konnte ich für einen kranken Schauspieler einspringen und spielte noch am gleichen Abend eine stumme Rolle. So kam ich zum Theater.
In Baden - Baden debütiert sie als Friederike in Carl Laufs Schwank "Pension Schöller". Am liebsten sieht man sie als Tanzgirl in schrägen Nummern. Solche Rollen fordern sie nicht wirklich und so stürzt sie sich ins reale Leben der eleganten Kurstadt, inszeniert sich als femme fatale, kleidet sich raffiniert und nutzt die Mode, um ihre auffallend schönen Beine zu zeigen. Sie gesteht: "Ich kam nach Baden - Baden in einem billigen Fähnchen. Wenig später wohnte ich schon im Grandhotel. Denn ich war ein junges Mädchen. Schamlos, völlig schamlos." ( Da nimmt sie schon vorweg, was sie später so überzeugend als Polly singen wird. )

Doch Carola will mehr. Ihr Ziel: Die Münchner Kammerspiele, damals die experimentierfreudigste Bühne überhaupt. Direktor Otto Falckenberg sieht nur ihre schönen Beine und zweifelt gleich ihr Talent an. Durch Vermittlung des Spielleiters Julius Gellner erhält sie trotzdem Stückverträge für kleine Rollen. Seit 1923 arbeitet der junge Bertolt Brecht als Dramaturg und Regisseur an den Kammerspielen. Carolas Kaltschnäuzigkeit imponiert ihm, im Gegensatz zu Falckenberg sieht er ihre Möglichkeiten, und es entwickelt sich eine Arbeits- und Liebesbeziehung, für die es aber nur wenige Belege gibt ( zum Beispiel einen Film, "Mysterien eines Friseursalons", mit Karl Valentin ).

Ihren Auftritt in Frank Wedekinds "Die Büchse der Pandora" erlebt der Dichter Klabund vom Parkett aus und ist wie vom Blitz getroffen. Er schickt Carola Rosen in die Garderobe, schreibt ihr Gedichte...
Eigentlich heißt Klabund Alfred Henschke. Ab 1910 ist er in der Münchener und der Berliner Bohème eine schillernde Figur. Obwohl er im Alter von 16 Jahren schwer an Tuberkulose erkrankt, tritt er als Kabarettsänger auf, schreibt Gedichte, Theaterstücke, Lieder, Romane und satirische, zeitkritische Texte. „Ich würde sterben, hätt’ ich nicht das Wort", sagt er von sich. Einen "Kettenraucher der Liebe“ nannte man ihn wegen seiner zahllosen Liebschaften. Dennoch heiratet er, aber nach vier Monaten Ehe stirbt seine Ehefrau. Mit seiner "Deutschen Literaturgeschichte in einer Stunde" und der "Geschichte der Weltliteratur in einer Stunde" gelingen Klabund in den Zwanzigerjahren zwei Bestseller.  
1924 wechselt Carola nach Breslau ans Lobe-Theater, an dem auch Therese Giehse und Peter Lorre spielen. Dort überzeugt sie gleich in der Titelrolle von "Cäsar und Cleopatra" von George Bernard Shaw. Nach Breslau folgt ihr Klabund, ihre Liebe aus München.

Klabund/ Alfred Henschke
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Er liebt die schöne und sportliche "volkseinfache Menschenblume" sehr, schreibt weiterhin für sie Gedichte und über sie die Fortsetzungsgeschichte "Die Silberfüchsin", die in dem Journal "Sport und Bild. Das Blatt der guten Gesellschaft" erscheint. Dort schildert er deren Kindheit und Jugend und nimmt dabei ihren Blickwinkel ein ( es sollte aber nicht als autobiografischer Schlüsseltext gelesen werden! ).

Ihr Zusammenleben steht von Anbeginn aber auch unter erheblichen Spannungen: "Schulden wie Heu, Stroh im Kopf und nur ein brennendes Herz. Wie soll das enden?", fragt der Dichter in einem Brief einen Freund. Am 7. Mai 1925 heiraten Carola Neher und Klabund, wohl wissend, dass ihnen nicht mehr viel gemeinsame Zeit bleiben wird. Hans Sahl, der sie damals  in Breslau kennt, erlebt das Paar so:
"Die Beziehungen zwischen beiden, Carola Neher und ihm, waren affektbeladen und führten häufig zu heftigen Auftritten und Szenen, auch in Gegenwart dritter. Aber man gewöhnte sich daran. Irgendwie entbehrte diese schamlose, vor nichts zurückschreckende Leidenschaft nicht einer gewissen Größe; Mann und Weib, die in Liebe aneinander verbluteten, der Dichter und die Schauspielerin, beide mit Worten ringend, am Worte leidend, die sich Worte um die Ohren schlugen oder sie einander beseeligt ins Ohr flüsterten, ermattet."
Das Breslauer Theater gilt zu jener Zeit als Talentschmiede und als Sprungbrett für die große Karriere, und Carola wird schnell zum Publikumsliebling. Die Uraufführung von Klabunds poetischem Stück "Der Kreidekreis" 1925 in Meißen, wird ein weiterer, riesiger Bühnenerfolg für seine Frau in der Rolle des chinesischen Bauernmädchens, aber auch für ihn als Autor ( und bessert die knappe Kasse des Paares auf ).

So kann Carola frohen Mutes vor Sommerbeginn 1926 das Kapitel Breslau schließen und sich endlich in die "Welthauptstadt der Kunst", Berlin, aufmachen. All die Regisseure, Dichter, Dramatiker, Mimen sind dort versammelt, die das alte Theater begraben wollen. Ihr erstes Engagement führt sie an das Theater in der Königgrätzer Straße, wo sie auf die künftigen Stars wie Elisabeth Bergner,  Tilla Durieux, Renate Müller, Alexander Moissi und Albert Steinrück stößt.

Auch Carola schafft den Aufstieg an die Spitze der Berliner Theaterwelt!

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Sie weiß sich in ihrer Popularität auch gut zu vermarkten und pflegt ihr Renomme ausgiebig: Sportlich und Stilikone ihrer Zeit, posiert sie für Modeaufnahmen im Badelook, auf dem Motorrad und im Boxring, beim Erklimmen des Berliner Funkturms, mit Gepard im Zoo - die Kameras sind immer dabei.

Im Juni-Heft der Monatszeitschrift "Uhu" von 1928 verrät sie ihr Schönheitsgeheimnis: "Ich nehme für die Haare rohe Eier, für die Stirne Fett, für die Augen kaltes Wasser und für das Gesicht Eis. Der Körper braucht Gymnastik … In der Woche eine Zigarette; einteilen muss man sich‘s halt."

1927
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In Berlin trifft sie auch wieder Bertolt Brecht, in dessen "Harem" sie sich aber nicht eingliedern möchte. Brecht ist von ihrer sachlichen und unsentimentalen Art immer noch fasziniert, liebt ihr "Pfirsichgesicht" und ihre Stimme und wird ihr später ( 1930 ) die Titelrolle von "Die Heilige Johanna der Schlachthöfe" auf den Leib schreiben - die Rolle, die sie nie spielen wird.

Klabund ist dem Lebenstempo seiner jungen Frau immer weniger gewachsen: ständige Treffen & Essen in der Bohème, ihre Proben, all ihre Auftritte in Komödien, Revuen, aber auch in großen Theaterrollen überall & nirgendwo, selbst im verstaubten Wiener Burgtheater, den vielen zeitlichen Trennungen, die das bedingt. Eine Frau in den Zwanzigern steckt das locker weg, aber nicht ein todkranker 38jähriger. Es kriselt ohne Ende in der Beziehung.

Dann steht die "Dreigroschenoper" von Brecht & Kurt Weill auf dem Programm. Die Proben beginnen am ersten August 1928, Ende des Monats soll im Haus am Schiffbauerdamm Premiere sein mit Carola in der Rolle der  Polly.

Klabund hat sich im Juli in die Alpen flüchten müssen, weil sein Gesundheitszustand sich immer dramatischer entwickelt. Carola verlässt die Proben & eilt zu ihm nach Davos. Und obwohl Brecht drängt, bleibt sie bei ihrem Mann, hält ihm die Hand. Es ist ein mühsames Abschiednehmen. Am Morgen des 14. August 1928 ist es vorbei.

Carola ist untröstlich, aber auch unendlich diszipliniert. Sie eilt zurück zu den Proben in Berlin, hält aber der Belastung der ohnedies von ständigen Krächen gezeichneten Probenarbeit nicht stand und erleidet einen Nervenzusammenbruch. Die Premiere findet ohne sie statt. Erst in einer gestrafften Neufassung übernimmt sie die Polly. "Es war eine raffinierte Aufführung, kalt berechnet. Es war der genaueste Ausdruck dieses Berlin. Die Leute jubelten sich zu, das waren sie selbst ... Erst kam ihr Fressen, dann kam ihre Moral ...", konstatiert Elias Canetti nach der Aufführung. Und der gefürchtete Kritiker Herbert Ihering lobt Carolas Auftritt "in vollkommener Einheit von Stil und Ausdruck".

Als Polly
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Die Verfilmung der "Dreigroschenoper" unter G.W. Pabst inszeniert Carola prominent und signifikant vor der Kamera. Am 19. Februar 1931 findet die Uraufführung des Films in Berlin unter Protest der Nationalsozialisten und deutsch-nationaler Kreise statt ( am 16. Februar 1934  wird er dann in Deutschland gänzlich verboten ).


Seit sie mit Ernst Busch, ihrem Partner in der seichten Unterhaltungsrevue "Ich tanze um die Welt mit dir", auf einer Massenveranstaltung der "Roten Fahne" die Ballade zum §218 von Brecht/Eisler gesungen hat, gilt sie als Sympathisantin der Kommunistischen Partei. Mitglied wird und ist sie nicht, aber links politisiert, wie so viele Intellektuelle der Weimarer Republik, die sich an den Zuständen jener Zeit reiben, Gerechtigkeit fordern und ständig erwartungsvoll auf das Experiment Sowjetunion schauen. 

Anatol Becker
Durch ihren neuen Lebensgefährten, den Dirigenten Hermann Scherchen, mit dem sie ab 1930 liiert ist, und der so von der Sowjetunion begeistert ist, dass er in der Marxistischen Arbeiterschule (MASCH) Russisch lernt, fühlt sie sich 1932 animiert, es ihm gleich zu tun.

Dort verliebt sie sich in den Russischlehrer und Kommunisten Anatol Becker, geboren im damaligen Akkermann ( heute Bilhorod-Dnistrowskyj in der Ukraine ) am Schwarzen Meer. In München und Braunschweig hat er Ingenieurwesen studiert, bevor er nach Berlin gekommen ist. Carola ist fasziniert von ihm und seinen Idealen, trennt sich von Scherchen, heiratet ihn, räumt ihre Etagenwohnung und verkündet Freunden: "Wir wollen nach Russland. Ins Land der Erfüllung zu Genosse Stalin"...

Ob es wirklich ihre politische Einstellung ist oder nicht mehr als Schwärmerei, wie bei vielen Künstlern ihrer Zeit - darüber sind sich die Biografen durchaus uneins. Fakt ist, dass sie 1933 mit anderen Künstlern einen Aufruf gegen Hitler unterschrieben hat, und ihr Bruder Josef nach einer Konzerttournee in Russland am 25. März 1933 im KZ Dachau interniert wird - Gründe genug, sich gefährdet zu fühlen und Deutschland schnellstens zu verlassen.

Über Wien und Prag reist das Paar im Sommer 1933 nach Moskau. Becker arbeitet dort als Konstrukteur in einer Maschinenfabrik, sie in der Filmfabrik "Meschrabpom", schreibt Rezensionen, Künstlerporträts, rezitiert, gibt den Laien der Truppe "Deutsches Theater/Kolonne Links" ihres Kollegen Gustav von Wangenheim Schauspielunterricht. Aus dessen hochfliegenden Plänen, die "Dreigroschenoper" mit ihr herauszubringen, wird nichts. Carolas Träume von der neuen Bühnenkarriere zerrinnen schnell... 

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Am 26. Dezember 1934 bringt sie ihren Sohn Georg zur Welt. Seine Geburt kommentiert sie so in der "Arbeiter Illustrierten Zeitung" 1936: "Ich hatte seit langem den Wunsch, ein Kind zu haben, aber drüben hatte ich nicht den Mut dazu, erst in der UdSSR konnte ich den Wunsch in Erfüllung gehen lassen.

Doch da ist die Welt der Carola Neher schon lange nicht mehr heil...

Im Sommer 1934, bereits schwanger, ist Carola nach Prag gereist, wohin die Mutter, im Mantelsaum eingenäht, Schmuck zu Carolas Unterhaltssicherung schmuggelt und ihr dort übergibt. Und sie trifft Zenzl Mühsam, die Witwe des Münchner Räterevolutionärs Erich Mühsam, bei der sie einen weiteren Münchener Räterevolutionär kennenlernt: Erich Wollenberg. Dieser, altgedienter Kommunist und Militärfachmann, der schon Mitte der 20er-Jahre von der Roten Armee in der Sowjetunion geschult worden, aber dann aus der KPD wegen "trotzkistischer Fraktionsbildung" ausgeschlossen worden ist und sich deshalb nach Prag abgesetzt hat, vermittelt ihr die Adresse einer deutschen Genossin, Else Taubenberger, bei der Carola ihr Kind bei Bedarf in Obhut geben kann. Ende 1934 wird sie von den Nazis auch ausgebürgert, weil sie Aufrufe gegen Hitler unterschrieben hat. Damit ist sie staatenlos und sitzt in der Falle...

Im Mai 1936 beginnt Stalin nämlich mit der Inszenierung seiner großen Säuberungen. Zenzl Mühsam und Carolas Ehemann Anatol werden verhaftet, als Trotzkisten gebrandmarkt und - gemeinsam mit Wollenberg & Taubenberger - eines geplanten Attentats auf Stalin beschuldigt. Wenige Wochen darauf wird auch Carola in Haft genommen. Ausgerechnet Gustav von Wangenheim, auf den sie immer gesetzt hat, hat sie denunziert. Nachdem einige Schauspieler seiner "Kolonne links" verhaftet worden sind, gibt er zu Protokoll:
"Carola Neher halte ich für eine Abenteurerin, die nach ihrer ideologischen Einstellung nichts Gemeinsames mit der Kommunistischen Partei hat. Ihre politische Haltung ist antisowjetisch. Zum Beispiel sagte die Neher: "Ich war im Regierungsgebäude und sah, wie diese dort lebten. Bin ich schlechter als sie? Die Menschen, wenn sie nicht dumm sind, können sehen, dass auch eine sowjetische Bourgeoisie existiert." Äußerungen dieser Art hörte ich oft von Neher."
( Tatsache ist, dass Carola mit Maria Osten bekannt ist, der Lebensgefährtin des "Prawda"-Redakteurs Michail Kolzow. Bei Maria Osten lernt sie die privilegierten Wohnverhältnisse für die sowjetische Parteiprominenz kennen, die in einem eigens für sie erbauten Wohnhaus ("dom pravitelstvo") leben. Darüber hat sie sich kritisch geäußert. Osten und Kolzow werden später im Rahmen der stalinschen Säuberungen ebenfalls hingerichtet werden. )

Carolas Mann wird eine Verbindung zur deutschen Gestapo in einem vom sowjetischen Geheimdienst vorgefertigten Protokoll angedichtet. Er wird am 29. Mai 1937 zum Tode verurteilt und erschossen, sie selbst in einem 25minütigen Prozess am 16. Juli 1937 zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. Einziges Beweisstück: Der Briefumschlag mit der Adresse Else & Herrmann Taubenbergers. Ihr Schlusswort: "Ich bitte das Gericht, mir den Beweis zu ermöglichen, dass ich kein antisowjetischer Mensch bin. Ich bitte, mir das zu glauben."

Aufnahmen des KGB von Carola Neher (1936)
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Brecht, im dänischen Exil, legt in jenen Tagen ein Gedicht an die Verehrte in seine Schublade und entwirft drei Briefe an Lion Feuchtwanger, in denen er den Freund bittet, sich für Carola in Moskau einzusetzen, aber dabei auch vorsichtig vorzugehen. Ob sie abgeschickt worden sind, ist fraglich. Feuchtwanger, der als Stalins Gast die Schauprozesse besucht und um Carola Neher weiß, findet die Prozesse legitim. Brecht wird ob seines Verhaltens von einem anderen Exilanten, Walter Held in einer niederländischen Exilzeitung gefragt: "Sie, Herr Brecht, haben Karola Neher gekannt (...) Warum schweigen Sie?"

Gefängnis Ljubanka
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Carola kommt in das berüchtigte Gefängnis Lubjanka in Moskau, wo man sie unter der Bedingung freilassen will, dass sie als russische Agentin über Skandinavien nach Deutschland geht und dort für die Russen arbeitet, was sie jedoch ablehnt. Sie kommt ins Gefängnis Butyrka, ab 1938 nach Jaroslawl, ein Jahr nach Wladimir. Nach dem Hitler - Stalin - Pakt steht für sie die Auslieferung an die Gestapo an.

Ihr Sohn, der bei ihrer Verhaftung bei den Taubenbergers lebt, die ebenfalls inhaftiert werden, ist inzwischen in einem Waisenhaus gelandet.

Als im Sommer 1941 die deutsche Wehrmacht in die Sowjetunion einfällt, steht Carola als Hochverräterin auf der Fahndungsliste der SS. Doch die Gefangenen werden vorher weiter nach Osten deportiert. In einem Lager des Gulag Sol-Ilezk südlich des Ural bleibt Carola. 50 bis 60 Häftlinge hausen in einer Zelle, die hygienischen Bedingungen sind katastrophal, deshalb lassen sich die Frauen wegen der vielen Läuse den Kopf kahl scheren. "Deutschlands schönste Frau" sticht noch immer heraus. "Gott, sah sie schön aus", wird sich Margarete Buber-Neumann, Witwe des während der stalinistischen Säuberungen ebenfalls hingerichteten Heinz Neumann, später erinnern, nachdem sie Gulag und Konzentrationslager überlebt hat.

Im überfüllten, von einer Typhus-Epidemie verseuchten Gefängnis erliegt die einundvierzigjährige Carola Neher, Häftling Nr. 59783, am 26. Juni 1942 einer schweren Typhus-Infektion. Ihr Körper wird in einem Massengrab in einer Kalkgrube verscharrt...

Das Letzte, worum sie ihre Mitgefangenen bittet, ist, sich um ihren Sohn zu kümmern. Sie trägt ihnen auf, sich an den Schauspieler Ernst Busch und den Autor Gottfried Benn, einen Freund Klabunds, zu wenden. Bertolt Brecht nennt sie nicht. Hilda Dutý wird später diesen letzten Willen auszuführen versuchen.

Rudolf Schlichter: Carola Neher (1929)
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Siebzehn Jahre nach ihrem Tod gibt das sowjetische Militärkollegium bekannt:
"Die Angelegenheit der Henschke, Karoline, verhaftet am 25. Juni 1936, ist vom … Militärkollegium am 13. August 1959 erneut verhandelt worden. Das Urteil des Militärkollegiums vom 16. Juli 1937 ist nach neu entdeckten Umständen aufgehoben worden. Die Angelegenheit ist abgeschlossen wegen der Nicht-Existenz des Verbrechens."
Der letzte Brief, der von Carola Neher bekannt ist, stammt von 1941 und ist an die Leitung des Heimes gerichtet, in dem ihr Kind ist. Doch sie erhält keine Antwort.

Auch den Sohn informiert niemand über seine leiblichen Eltern. Er wird erst als Dreißigjähriger die Geschichte seiner Eltern erfahren und 1975 von Odessa in die Bundesrepublik auswandern. ( Hier ist eine sehenswerte Dokumentation on demand zu finden, die seine Suche nach ihren Spuren in Russland festgehalten hat - sehr berührend & informativ. )
Carola Neher: "Wir Schauspielerinnen sind auf der Bühne in unserem Element. Wir stolpern nur im Leben."
Und wie sie gestolpert ist! Mich erschüttert immer wieder aufs Neue, wie viele Höhenflüge, wie viele Hoffnungsträger das schreckliche 20. Jahrhundert zerstört hat. Und Carola Neher ist zudem Opfer einer sozialen Utopie geworden, die im Namen der ( angeblichen ) Barmherzigkeit und Menschlichkeit mit einer ebensolchen Unbarmherzigkeit & Grausamkeit mit ihren gläubigsten Anhängern umging wie die von ihr bekämpfte soziale Wirklichkeit. Mich hat ihre Lebensgeschichte lange umhergetrieben & beschäftigt...

                                                             

10 Kommentare:

  1. Dass einen diese Lebensgeschichte umtreiben kann, verstehe ich gut.
    Ich kannte sie nicht bisher. Und sie ist so symptomatisch für viele wie Du schon schreibst, die in diesem Zeiten zerstört worden sind.
    Wie schnell aus Kultur Unkultur werden kann, erschüttert mich immer wieder und ist mir Mahnung.
    Danke für dieses aufrüttelnde Portrait.
    GLG Sieglinde

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  2. Phu, was für eine Geschichte. Die Revolutionen, die ihre Kinder fressen hatten sich in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts so breit gemacht, es ist unvorstellbar für uns Friedenskinder. Von welchen Verblendungen in hundert Jahren wohl gesprochen wird was unsere Zeit angeht...
    Danke für dieses Portrait, das muss ich erstmal verdauen( erinnert es mich auch an das soeben gelesene Buch von Natascha Wodin" Sie kam aus Mariopol", das mir sehr auf der Seele liegt- was für ein grauenhaftes Jahrhundert!)
    Lieben Lisagruß!

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  3. Carola Neher kannte ich nur vom Namen, nichts von ihrer Geschichte. Ich wusste noch nicht einmal, dass sie mit Klabund verheiratet war, obwohl ich den ja sehr mag.
    Danke fürs Schließen der Wissenslücken!
    Liebe Grüße

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    1. Meine Lieblingsbeschäftigung: All mein akkumuliertes Wissen vernetzen!
      LG

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  4. Hurra, es klappt endlich! Ich kann jetzt auch endlich hier einen Kommentar schreiben. Herzlichen Gruß aus der Südstadt. Maria H.

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  5. Liebe Astsrid,
    eine Lebensgeschichte, die unter die Haut geht.
    Ich kannte sie nur dem Nmen nach- hatte mich aber nicht tiefer
    mit ihr beschäftigt.
    Einen angenehmen Donnerstagabend wünscht Dir
    Irmi

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  6. Wieviel Leben in so kurzer Zeit. Carola Neher kannte ich vorher nicht. Bei dir lerne ich immer dazu.
    Das Schicksal des Sohnes macht traurig. Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen.

    LG Astrid

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  7. Was für eine Lebensgeschichte... Ich kannte Carola Nehers Namen und wusste von ihrer Bühnenkarriere, aber nicht von ihrem Schicksal. Mir geht es so wie Lisa, ich hab letztens auch Wodins "Sie kam aus Mariupol" gelesen und deshalb noch viele innere Bilder, in die sich Nehers Weg einfügt.
    Als Nachgeborene ist der Blick auf diese Zeiten doch ein anderer, als wenn man sich in den Mühlen der Geschichte befindet und entscheiden muss, wo man Vertrauen und Hoffnung keimen sieht, wo Rettung sein könnte...
    Danke für diesen bewegenden Beitrag.
    Liebe Grüße
    Andrea

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  8. Extrem harte Kost servierst du heute, Namen, die ich wohl kenne oder schon gelesen und gehört hatte, von den Zusammenhängen und den Details kannte ich so gut wie nichts. Was für ein Schicksal. Liebe Grüße Ghislana

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  9. was für eine geschichte, liebe astrid. ich bin sehr erschüttert, wie eine frau, eine künstlerin, die so aktiv und voller elan ihr leben gestaltet hat, enden musste. was für ein unglück, dass sie in diesen schrecklichen zeiten leben musste. zum heulen, nein: zum laut schreien.
    lg, mano

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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