Donnerstag, 10. Mai 2018

Great Women # 140: Emma Herwegh


Von der Frau, die ich euch heute hier vorstellen werde, habe ich lange nichts gewusst. Und das, obwohl ich ein badisches Kind bin und in Heimatkunde eigentlich immer gut aufgepasst habe, denn für dieses kleine Ländchen hat sie eine bemerkenswerte Rolle gespielt. Ihr Mann hingegen war mir ein Begriff, standen doch seine Werke in der von uns geschätzten und gesammelten Ausgabe des Aufbau - Verlages der ehemaligen DDR in unserer Bibliothek. Erst als ich immer wieder vom Roman des Dirk Kurbjuweit gehört habe, wurde meine Neugier geweckt und ich begann, über sie nachzuforschen: Emma Herwegh.

Emma kommt als Emma Charlotte Siegmund am 10. Mai 1817 in Berlin ( nach anderen Quellen in Magdeburg ) - also heute vor 201 Jahren - zur Welt. Von ihrer Mutter Henriette Wilhelmine Krauer ist wenig bekannt. Ihr Vater ist der Kaufmann Johann Gottfried Siegmund, einer alten jüdischen Familie entstammend, die zum Protestantismus übergetreten ist.

Er besitzt ein florierendes Seidenwarengeschäft und darf den Titel Hoflieferant führen. Das Wohn- und Geschäftshaus der Familie befindet sich direkt am Schlossplatz und gehört zu den vornehmsten Adressen in dieser exklusiven Gegend Berlins. Vom Haus aus kann das Mädchen Emma alle höfischen Ereignisse gut verfolgen. Und wenn Emma Schnupfen hat, kommt der Leibarzt des Königs ins Haus.

Blick vom Schlossplatz zur Königsstraße (1788)
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Neben der Stadtwohnung besitzt die Familie noch eine Villa im Tiergarten - es sind also sehr großbürgerliche Verhältnisse, in denen sie zusammen mit ihren Geschwistern Gustav August ( der später Arzt und demokratischer Politiker werden wird ), Minna und Fanny Pauline aufwächst.

Der Vater ist - für das Großbürgertum jener Zeit durchaus normal - liberal gesinnt, kulturell interessiert und allem Schönen aufgeschlossen, veranstaltet allabendliche Gesellschaften, an denen Hofbeamte, Diplomaten, Künstler, Wissenschaftler und Geschäftsleute, aber immer wieder auch Adelige, besonders aus Polen, teilnehmen.

1838
(Gemälde von Friederike Miethe )
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Emma bekommt eine sehr gute Ausbildung durch Privatlehrer, die Rang und Namen haben, lernt Fremdsprachen, die klassische & zeitgenössische Literatur kennen und die Geschichte, beschäftigt sich mit religiösen, philosophischen & politischen Fragen, wird aber auch auf dem Klavier und im Zeichnen ausgebildet. Sie singt gerne, komponiert, spielt Theater, schreibt Gedichte, übersetzt und zeichnet ihre Umgebung und ihre Familie - eine vielseitig interessierte Person! Dazu reitet und turnt sie noch, besucht Konzerte, Theater, Oper und Ballett, unternimmt Reisen in die Alpen & in diverse , damals angesagte Bäder wie Karlsbad und Helgoland. In ihrem Tagebuch hält sie alle ihre Vergnügungen in Begleitung von Freundinnen und Bekannten fest.

1842
( Zeichnung von Friederike Miethe )
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Eine "bildungssatte höhere Tochter" ( Michail Krausnick ) aus dem biedermeierlichen Milieu der oberen Zehntausend Berlins?  Ihre Tagebücher lassen den Schluss zu, dass da ein durchaus politisch - emanzipatorischer Geist heranwächst, der sich in der angepassten Gesellschaft der Kaufleute und Beamten um sich herum so gar nicht wohl fühlt:
"Dieses sogenannte juste-milieu, aus dem weder eine Tugend noch ein Verbrechen hervorgeht, diese Zwitternaturen, halb liberal, halb royal, diese echten Schmarotzerpflanzen, die heute auf die Auferstehung Polens und morgen auf den Kaiser Nikolaus ihre Toaste ausbringen, in dem einen Knopfloch den Orden der légion d'honneur und dicht daneben den für geheime Staatsverdienste - das ist die Brut, die ich vernichtet sehen möchte", schreibt sie im Sommer 1842.

Emma engagiert sich schon lange für demokratische Ideale. Sie begeistert sich für die Julirevolution 1830 in Frankreich & das Hambacher Fest 1832, sympathisiert mit polnischen Freiheitskämpfern, ist sie doch schon in ihren Jugendjahren in des Vaters Haus in Kontakt zur polnischen Intelligenz gekommen. In einer zwölf Jahre älteren Freiheitskämpferin, Emilie Sczaniecka, findet sie eine Freundin und sieht in der ihr politisches Ideal. Diese schenkt ihr einen Ring mit der Inschrift "Noch ist Polen nicht verloren" - Emma wird ihn ihr Leben lang tragen. Sie besucht auch die rapide wachsenden Elendsviertel Berlins.  

Etliche Bewerber tummeln sich im väterlichen Salon, die es wahrscheinlich nicht nur auf das angenehme, anziehende Äußere des schlanken & geschmeidigen Mädchens - sie wird aber auch als "ganz allerliebstes, keckes Bürschchen" beschrieben -, sondern auch auf die zu erwartende großzügige Mitgift abgesehen haben. Doch Emma hat auch in dieser Hinsicht ihren eigenen Kopf, fragt sich, warum sie weniger dürfen soll, als ein Mann, sie sei doch ebenso ein Mensch und lässt sie alle abblitzen. Das Überschreiten von Konventionen bringt sie immer wieder in Konflikt mit Eltern oder Freunden, verlangt sie doch gleiche Rechte in Freundschafts- und Liebesbeziehungen und beansprucht in männlicher Gesellschaft mitreden zu können.

Unkonventionell ist auch ihre Liebe zu ihrem Schwager, dem Mann ihrer jüngeren Schwester Fanny, Jules Piaget, dem "freien Schweizer", dem sie Gedichte widmet, gepresste Blumen oder Pantoffeln schickt und als "Bruder" bezeichnet. Die diffizile Dreiecksbeziehung findet durch den überraschenden Tod des 31jährigen ein abruptes Ende.

Als sie im September 1841 die "Gedichte eines Lebendigen" von Georg Herwegh liest, ist sie hin und weg und verkündet vor ihrer Familie: "Das ist die Antwort auf meine Seele!", denn in ihnen entdeckt sie eine "heilige Waffe gegen innere und äußere Sklaverei". Kommentar des Bruders: "Das fehlt noch! Da kämen zwei Aufgeregte zusammen."

Georg Herwegh (1843)
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Georg Herwegh, am 31. Mai 1817 in Stuttgart geboren, ist von Kindheit mit einer besonderen körperlichen und seelischen Sensibilität ausgestattet, die ihn auch unter der gescheiterten Ehe der Eltern besonders leiden lässt. Auf Wunsch der Mutter studiert er Theologie am Seminar in Maulbronn und anschließend an der Tübinger Universität. Doch wechselt er 1836 zur Rechtswissenschaft und bricht das Studium nach einem halben Jahr aus finanziellen Gründen ganz ab. Ab da ist er literarisch tätig: Zuerst in Stuttgart, dann nach der Flucht im Sommer 1839 in der Schweiz. Weil er auf einem Maskenball einen Offizier beleidigt hat, hat ihm in Württemberg die militärische Zwangsrekrutierung gedroht.  
1841 erscheinen in Zürich die "Gedichte eines Lebendigen." Der Erfolg dieses Gedichtbandes ist überwältigend, führt aber in Preußen zum Verbot. Dennoch verbreiten sich die Gedichte rasant. "Die Verse sind formvollendet, populär und revolutionär." ( Michail Krausnick )
Kennenlernen kann Emma den Jungstar der Dichtung nur, weil Preußen zwischenzeitlich die Zensur ein wenig gelockert hat, und sich Georg aus dem Zürcher Exil wagen und auf Triumphzug durch die deutschen Lande begeben kann. In Berlin ist er im November 1842. Emma setzt Himmel & Erde in Bewegung, um seine Bekanntschaft zu machen. Am 6. November steht er vor der Tür des Hauses Siegmund. Und nach einer Woche mit langen Gesprächen verloben sich die beiden Gleichaltrigen. Emma schreibt an Georg: "Du bist mir das verkörperte Bild der Freiheit, nach der ich, solange ich lebe, mich gesehnt."

Die Verlobung wird alsbald öffentlich, man munkelt von einer bloßen Geldheirat, und Fürst Metternich in Wien wird die Nachricht hintertragen, dass Herweghs fortschrittlicher Ruf ruiniert sei. So schreibt ihm sein Zuträger: "Herweghs Verheiratung mit der wohlhabenden, aber schon etwas alten Schnittwarenhändlerin Demoiselle Sigmund hat ihm vollends bei den "Freien" und Liberalen in Berlin den Stoß gegeben." ( Quelle hier  - Antisemitismus, ick hör dir trapsen ). Doch aus all ihren schriftlichen Zeugnissen wird überdeutlich: Da sind zwei radikal bereit, für politische Freiheit auf Status und persönliches Glück zu verzichten.

Nach der Verlobung ist es mit der Äußerung der freien Meinung für Georg Herwegh bald vorbei: Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. verbannt ihn wieder, nachdem er sich in einem offenen Brief über die politischen Verhältnisse in Deutschland geäußert hat. In seiner Heimat steckbrieflich gesucht, beantragt Herwegh in Zürich das Bürgerrecht. Der Kanton lehnt allerdings ab, selbst eine Aufenthaltsbewilligung. Die Stadtoberen befürchten "leicht unangenehme Verhältnisse und Verwicklungen mit fremden Staaten" (sic!).  Der Kanton Baselbiet hat da nicht solche Ängste:  "Wir freuen uns, durch diese Bewilligung den Beweis geben zu können, dass noch nicht alle Kantone der Schweiz der Spiesserei verfallen sind." ( Quelle hier

Baden 1840
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Also heiraten Emma und Georg in der reformierten Kirche von Baden an einem verschneiten Märztag im Jahr 1843. Da die Trauung kurzfristig vereinbart worden ist, fühlt sich der Prediger unvorbereitet, besteht die Garderobe aus Zivilkleidung mit einem im Ort schnell aufgetriebenen Schleier aufgehübscht, findet aber im Beisein einer illustren Gästeschar statt, darunter der Anarchist Michail Bakunin, der die Braut mit "Adieu Mademoiselle" beim Weg in die Kirche und mit "Bonjour Madame" beim Verlassen derselben begrüßt. Anschließend wird im "Freihof" gefeiert, allerdings ohne die Eltern der Braut, die noch unterwegs aus Berlin sind. Die Gemeinde Augst gewährt Georg Herwegh das Bürgerrecht und im April bekommt er das Kantonsbürgerrecht in Liestal ( fünf Jahre später wird es ihnen in lebensbedrohlicher Lage nützen ).

Ihre 1843 geschlossene Ehe verstehen Emma und Georg Herwegh als gemeinsamen Kampf für den politischen Fortschritt. An diesem Ideal wird Emma auch immer festhalten, egal, wie es im Privaten mit ihrer Liebesbeziehung aussieht.

Bald zieht das Paar weiter nach Paris, nachdem Herwegh vom württembergischen König unter der Bedingung der Auswanderung begnadigt worden ist. Dort kommt der erste gemeinsame Sohn Horace zur Welt, 1847 der zweite, Camille, der bereits mit zehn Monaten in Berlin verstirbt.

In Paris, jenem "Zufluchtsort für politisch Verfolgte aus ganz Europa" wohnt die junge Familie gleich neben ihren Freunden Karl und Jenny Marx. Dank der Mitgift Emmas können sie einen durchaus mondänen Lebensstil führen: In ihrem Salon gehen Heinrich Heine, Michail Bakunin, Iwan Turgenjew, Alexander Herzen sowie George Sand ein und aus. Während ihr Mann literarisch-politische Zeitschriften plant, Gedichte und Essays verfasst, übersetzt die polyglotte Emma die politischen Aufrufe ihrer polnischen, russischen und italienischen Freunde im Exil und schreibt fleißig Tagebuch.

Als im Herbst 1847 in Berlin ein Prozess gegen die Teilnehmer eines geplanten polnischen Aufstandes stattfindet, reist Emma in ihre Heimatstadt und erreicht eine Erlaubnis zum Besuch der Gefangenen in Moabit. Anschließend setzt sich für eine Verbesserung ihrer Haftbedingungen ein und dient als Kurierin zwischen den Angeklagten und deren Angehörigen in Paris.

Barrikadenkämpfe  in der Breiten Straße in Berlin
dort, wo Emmas Familie wohnt (1848)
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Nachdem im Februar 1948 die französischen Bürger den König Louis Philippe vom Thron gejagt haben und im preußischen Berlin die Märzrevolution in Gang kommt, seien Emma und ihr Mann "taub vor Enthusiasmus" gewesen, wie eine Freundin bemerkt: Nach zwei Hungerjahren und wachsender Arbeitslosigkeit verknüpfen sich endlich Forderungen des Bürgertums mit dem Klassenkampf, Republikaner und Arbeiter machten gemeinsame Sache gegen die jeweiligen Regierungen in ihren Ländern.

In Paris wählt unterdessen die "Deutsche Demokratische Legion", eine Einheit von Freiwilligen, Herwegh zu ihrem Präsidenten. Mehr als 60 000 Deutsche - politisch Verbannte wie Wirtschaftsflüchtlinge - leben in der französischen Hauptstadt und sind bereit zum politischen Kampf für mehr Freiheiten in ihren Heimatländern. Emma wird als Vermittlerin zwischen dieser Legion und den badischen Aufständischen im Frühjahr 1848 aktiv. Sie sieht in den Auseinandersetzungen auf deutschem Gebiet die Chance für eine "Europäische Republik" gegeben.

Die Schlacht bei Kandern 1848
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In geheimer Mission reist sie also nach Baden, verhandelt mit Friedrich Hecker, Führer eines von Konstanz aus bewaffneten Zuges enttäuschter Demokraten und Freischärler, die sich in Richtung der Karlsruher Residenz aufgemacht haben. Der zögert, denn die Pariser haben keinen guten Ruf. Emma sucht ihn zu überzeugen:

"Wollt ihr wirklich nichts als eine badische Republik, so mögt ihr uns getrost ausschließen, denn welcher Mensch kann sich heutiges Tags dafür interessieren. Wollt ihr aber die Republik für ganz Deutschland, womöglich für ganz Europa – mit welchem Recht zögert ihr da, die Mitwirkung Eurer Brüder laut zu begehren?"

Emma lebt - hier zum Beispiel
als heutige Playmobilfigur,
gefunden hier
Bewaffnet und zu Pferde, als einzige Frau der Truppe, schwarze Tuchhosen, Ledergürtel und einen breitkrempigen Hut mit schwarz-rot-goldener Kokarde, also Männerkleidung, tragend, reiht sich Emma dann selbst in die Unterstützerarmee der "Deutschen Demokratischen Legion" ein und zieht mit ihnen vom Elsass aus nach Baden. Doch als die Freiwilligen endlich die deutsche Grenze überschreiten, ist der "Heckerzug" bereits von preußischen Militär geschlagen.
"Während ihr Mann und die Offiziere im Wirtshaus die schier aussichtslose Lage berieten - die feindlichen Truppen standen vor der Stadt -, wusste Emma Herwegh, was zu tun war. Es gelang ihr, über die Köpfe der Militärs hinweg, die Legionäre zum Weitermarschieren zu bewegen. Für eine Nacht wurde sie zur ersten Heerführerin der deutschen Geschichte. In einem strapazenreichen Marsch leitete sie die kleine Streitmacht auf schmalen Pfaden unversehrt durch die feindlichen Reihen." ( Michail Krausnick an dieser Stelle )
Die 650köpfige Truppe der Herweghs wird von hessischen und württembergischen Truppen bei Dossenbach im Schwarzwald vier Tage gejagt, verfolgt und aufgerieben. Die übermüdeten, hungrigen und spärlich bewaffneten Freischärler flüchten in alle Himmelsrichtungen. Emma und Georg werden von einem Bauern versteckt ( obwohl 4000 Gulden auf Herweghs Kopf ausgesetzt sind ), entsprechend armselig gekleidet und auf einem seiner Felder platziert. Mit den geschulterten Heugabeln gelingt es dem Ehepaar, in Rheinfelden die rettende Schweizer Grenze zu überschreiten. Als Baselbieter Bürger droht ihnen dort keine Auslieferung. 

Da ist dann auch schon ganz bald die Revolution einschließlich der Barrikadenbauerei in Berlin erledigt, und die Reaktion hat längst wieder Oberwasser. Deutschland ist noch nicht reif für Einigkeit und Recht und Freiheit...

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1849 hält Emma ihre Erlebnisse schriftlich fest ( "Zur Geschichte der deutschen demokratischen Legion aus Paris. Von einer Hochverräterin" - ohne Nennung ihres Namens ). Darin stellt sie die Gegebenheiten aus ihrer Sicht dar, nachdem die Presse die politische Rolle der Herweghs tendenziös dargestellt hat. Man hat sie nämlich als französische Banditen beschimpft, die plündernd und brandschatzend in Baden eingefallen seien. 

Keiner darf die Schrift drucken, bis sich schlesische Drucker dazu bereit erklären. Aber sie wird sofort beschlagnahmt und verboten. Emma schreibt darin:
"Es gibt noch ein anderes Deutschland, als das zu Frankfurt verratene, ein anderes, als das, welches ... zum Henker oder Spießgesellen an allen nach Freiheit ringenden Völkern geworden ist, und seine besten Kinder im Exil oder in schmählichen Banden hält. Es gibt ein junges, demokratisches Deutschland!"
Im gleichen Jahr bringt sie ihre Tochter Ada Virginie zur Welt, ein ihr schwieriges Kind. Nach dem Revolutionsabenteuer leben die Herweghs jetzt in Genf bzw. in Zürich. Ihre materielle Situation ist angespannt, Dienerschaft nicht mehr möglich, denn auch Vater Sigmund hat durch die Revolutionswirren Verluste erlitten. Die Werte seiner Immobilien sind gefallen und Kredite schwerer zu beschaffen, und deshalb kürzt er die Alimentation der Tochterfamilie.

Aber wieder gibt es einen Salon, in dem die kulturellen & politischen Größen der Zeit wie Gottfried Keller, Ferdinand Lassalle, Richard Wagner, Franz LisztGottfried Semper, Jakob Moleschott und die Gräfin Hatzfeldt verkehren. 

Emma Herwegh wird zu ihrer Zeit geliebt und gehasst, bewundert und beschimpft, da sie sich nach wie vor über alle Konventionen jener Tage hinwegsetzt. Aus ihren Tagebüchern und ihrer Korrespondenz spricht eine außergewöhnlich selbstbewusste & emanzipierte Frau. Und doch weist ihr Leben Merkmale eines traditionellen Rollenverständnisses auf. Die gleiche Emma erduldet nämlich die sogenannte Herzen-Affäre: Über Jahre hin unterhält ihr Mann in Paris eine Liebschaft - die keineswegs seine erste und auch nicht seine letzte ist - mit der Ehefrau des befreundeten Schriftstellers & Revolutionärs Alexander Herzen, der schönen Natalie Herzen. Emma scheint weniger die Betrogene als die Vertraute ihres Mannes zu sein, übermittelt Liebesbriefe, die geheim bleiben müssen, und setzt alles daran, ein Blutvergießen zwischen den Männern zu verhindern, "eine Zigarette nach der anderen dampfend", wie der Freund Gottfried Keller  sie in dieser Stresssituation beschreibt. 

Felice Orsini
Die Affäre bietet europaweit reichlich Stoff für Klatsch, selbst auf gehobener Ebene: George Sand, Richard Wagner und Italiens Revolutionär Mazzini beteiligen sich, Briefe schreibend, gerne daran. Letztendlich scheitert der Versuch einer Liebe zu viert kläglichst: Die Herweghs trennen sich. Emma ist auch die innere Freiheit wichtig, nach der eigenen Fasson leben zu können. 

1850 zieht sie nach Nizza, dann ins italienische Genua. In dieser Zeit intensiviert sie ihre engen Beziehungen zu italienischen Patrioten, insbesondere zu Felice Orsini. Nach dem Scheitern der revolutionären Bewegungen in ihrem eigenen Heimatland setzt sie nun alle Hoffnung auf die italienische Freiheitsbewegung, um doch noch eine Europäische Republik zu installieren. Alles Nationale ist ihr zu engstirnig. 
"Sie hat für Garibaldi, Orsini, Mazzini – die kannte sie auch alle persönlich! – hat für die Freiwillige rekrutiert, hat Italienischkurse gegeben in der Schweiz, hat dem Oberst Rüstow praktisch befohlen, dass er jetzt Garibaldi als Befehlshaber unterstützen soll, hat also wirklich die fähigsten Leute für Garibaldis Freischarzug geworben. Und hat dann den Orsini aus dem Gefängnis sogar befreit." ( Michail Krausnick an dieser Stelle )
1853 kehrt sie auf Bitten Herweghs zu ihm zurück. Sie leben weiter vom Vermögen ihrer Eltern, Emma publiziert aber auch erste Übersetzungen französischer, italienischer und polnischer Autoren und Autorinnen ins Deutsche und trägt damit zum Unterhalt bei.

Ihrem Freund Orsini schickt sie 1856 Bücher mit eingebundenen Sägeblättern ins Gefängnis in Mantua und verhilft ihm so zur Flucht ( später wird er wegen eines missglückten Attentats auf Napoleon III. hingerichtet ).

1858 wird die inzwischen 41jährige in Zürich noch einmal Mutter eines Sohnes, Marcel. Mit ihrem Mann wendet sie sich der sich allmählich gut organisierenden Arbeiterbewegung zu ( Herwegh wird 1863 zum Bevollmächtigten des neu gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in der Schweiz, der Vorläuferorganisation der späteren SPD ). Ihr Haus ist nach wie vor Zufluchtsstätte für Flüchtlinge aus ganz Europa.

Georg Herwegh (1875)
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Als 1866 eine allgemeine Amnestie für politische Flüchtlinge in Deutschland ergeht, verlassen die Herweghs die Schweiz und ziehen nach Baden-Baden, nicht ohne vorher Hausrat, Gemälde und "seinen liebsten Besitz", die wertvolle Bibliothek, zu verscherbeln, um die Gläubiger der Familie zu befrieden.

Neun Jahre werden sie in Baden - Baden wohnen, bis zum Tod Georg Herweghs durch eine Lungenentzündung 1875. Seinen Sarg begleitet sie in die Schweiz, um ihn seinem Wunsch gemäß in freier Erde zu begraben.

Dass es ihre Lebensleistung ist, dass es den "Nachmärzdichter" Georg Herwegh überhaupt gibt, meint Michail Krausnick hier. Sie ist es gewesen, die "den Dichter unter größten Opfern in der Spur des Lebendigen, sein ungebeugtes Weiterschreiben ermöglicht und das Überleben der Familie erbettelt hat."

Nach  dem Tod ihres Mannes lebt Emma drei Jahre in Stuttgart. Von dort aus veranlasst sie die Herausgabe der "Neuen Gedichte" ihres Mannes durch Ludwig Pfau 1877 in Zürich, die im Deutschen Reich sofort verboten werden, und sie verfasst ihre "Erinnerung an Georg Herwegh", und zwar so kämpferisch "an der Grenze des im Bismarkreich Erlaubten", so dass die auftraggebende "Gartenlaube" sie nicht zu veröffentlichen traut ( und die dann in Leipzig erscheint). Dann übersiedelt sie nach Paris, wo ihre beiden Söhne, Horace, der Ingenieur, und Marcel, der Geiger, leben.

Dort verdient sie sich zu ihrer jährlichen Rente von 2000 Franc aus ihrem Erbe, angelegt in Papieren, ihren Lebensunterhalt als Übersetzerin und Französischlehrerin und lebt in billigen Studentenzimmern.

In Paris kann sie zwar nur ein materiell eingeschränktes Leben, aber eines in intellektuellen Kreisen führen ( in der Pariser Gesellschaft ist sie nach wie vor eine geachtete und einflussreiche Persönlichkeit ). So verbindet sie zum Beispiel von 1892 an eine enge Freundschaft mit dem deutschen Dramatiker Frank Wedekind, nur sechs Jahre älter als ihr jüngster Sohn. Dem nimmt sie das Versprechen ab, einen Verleger für Herweghs Werke in Deutschland zu finden. Weil das dauert, begründen Wedekind und Albert Langen 1896 ihre Zeitschrift "Simplicissimus", das in Zukunft bedeutendste Satireblatt der Kaiserzeit,  und lassen in ihrem ersten Heft Herweghs verbotene Gedichte programmatisch auferstehen. 

Emma im Alter
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Am 24. März 1904 endete Emmas Leben in Paris, ein Leben, das gekennzeichnet gewesen ist durch ihren lebenslangen Einsatz für demokratische Verhältnisse, die auch die Rechte der Frauen respektieren. Dieser Kampf weckt "Riesenkräfte auch in Frauen", wie sie schon in einem ihrer Brautbriefe formuliert hat.

Sie wird dem Liestaler Friedhof neben ihrem Ehemann bestattet. Ihre letzte Ruhestatt soll in einem demokratischen Land liegen, in freier Erde, das ist ihr Vermächtnis. In ihrer Heimat gibt es immer noch einen Kaiser und keine Republik...

Die von ihr hinterlassenen Tagebücher, ihre geistreiche & umfängliche Briefkorrespondenz, Übersetzungen und andere Schriften werden im Dichtermuseum/Herwegh - Archiv in Liestal vom überlebenden Sohn Marcel untergebracht. Der veröffentlicht auch den Briefwechsel seiner Eltern als Brautleute. 

Zur Erinnerung an Emma Herwegh gibt es in Liestal einen Platz mit ihrem Namen, in Berlin-Moabit und Freiburg-Betzenhausen sind Straßen nach ihr benannt ( und in dem geliebten Nachbarstädtchen meines Heimatdorfes in Baden ). In Baden-Baden erinnert eine Gedenktafel an sie.
"Laß durch nichts in der Welt dich binden als durch deine höchste innere Wahrheit.
Das ist das einzige Zitat nach Emma Herwegh, dass durch das weltweite Netz geistert. Was für das 19./20. Jahrhundert seine Richtigkeit hatte, wird in meinen Augen doch eher fragwürdig in Zeiten der gefälschten Wahrheiten, in denen Errungenschaften wie Freiheit, Demokratie und republikanische Anschauungen* zusehends unter Druck geraten und "Kriegsidiotentum, Gewalt" ( G. Herwegh ) und Nationalismus weltweit fröhlich Urständ feiern. Umso wichtiger war es mir, ihre Geschichte einmal in diesem Rahmen zu erzählen...






* Im Republikanismus verständigen sich Bürger und Volksvertreter (bzw. Interessengruppen, Parteien, Assoziationen und staatliche Organe) untereinander im Interesse der Allgemeinheit und unterbreiten anteilnehmend Vorschläge, um bei der Umsetzung der Politik dezidiert Einfluss zu nehmen ( Wikipedia )

7 Kommentare:

  1. hach..
    was für ein Leben ..
    das würde für 10 andere reichen ;)
    was diese Frau alles geleistet hat und mit wem sie alles bekannt war
    unerschütterlich für ihre Überzeugung eintretend
    da fühlt man sich selber manchmal ganz klein ..

    solche Menschen gibt es heute kaum noch ..(oder wir kennen sie noch nicht ;) )
    erst kommt der eigene Komfort
    und dann kann man sich ja vielleicht mal für etwas engagieren
    aber wer würde sein eigenes Glück für seine Ideen und für ein größeres Ziel opfern ?
    danke für die Vorstellung

    liebe Grüße
    Rosi

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  2. Wow, das nenne ich ein bewegtes Leben! Mir war sie gar nicht bekannt– nur ihr Mann... Typisch wieder mal! Danke für das schöne Porträt und für die Aufklärung!
    LG
    Veronika

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  3. Natürlich ist mir Georg Herwegh ein Begriff. Wirklich traurig, dass nicht der Name Emmas genauso bekannt geblieben ist. So spannend und interessant hast du wieder zum Füllen der Wissenslücke beigetragen. Was für eine bewundernswerte Frau!
    Liebe Grüße
    Andrea

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  4. Wieder so eine spannende Frau im Schatten eines großen Mannes. Dabei hat sie zum Großteil den Lebensunterhalt gestellt, wenn auch meist aus der Schatulle ihres Vaters, der so auch irgendwie mit an der Revolution beteiligt war.
    Auf jeden Fall ist sie eingestanden für ihre Überzeugungen und ihr Leben war höchst interessant im Guten wie im Schlechten.
    Ich kannte sie bis dato nicht und freue mich wieder mal eine mir unbekannte Great Woman kennengelernt zu haben.
    Danke sagt Sieglinde

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  5. obwohl ich mich im studium ziemlich ausgiebig mit der 1848er revolution beschäftigt hatte, ist mir ihr name unbekannt (oder ich hab ihn vergessen...). was für eine unglaublich emanzipierte frau, die sich offensichtlich nie hat unterkriegen lassen! toll, von ihr zu lesen!
    liebe grüße
    mano

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  6. Wieder mal ein gelungenes Portrait über eine interessante Frau, die zu Unrecht in den Schatten eines Mannes gestellt wird.
    Und mit “Friederike Miethe” könntest Du vielleicht gleich Stoff für ein weiteres Portrait aufgeführt habe, oder? Liebe Grüsse Maren

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    1. Sehr schwierig, da SEHR vergessen! War in Paris als Frédérique Emilie Auguste O'Connell, verheiratet mit einem belgischen Militär, verlor nach Ende der Ehe ihre geistige Gesundheit und starb in der Psychiatrie, 1885. Hier gibt es ein Foto von ihr:
      http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b53050823z.item
      Insgesamt keine sehr ergiebige Recherche ;-)
      GLG

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Danke, dass du dir für ein paar liebe Worte Zeit nimmst!

Ich wünsche mir allerdings nach wie vor, dass ein Name am Ende des Kommentars steht.
Da die anonymen namenlosen Kommentare zuletzt wieder zugenommen haben, hier der ausdrückliche Hinweis:

Ich werde sie ab jetzt wieder konsequent NICHT freischalten.

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